Technische Besonderheiten
Shioda lernte als früher Schüler von Ueshiba die ältere Kampfkunst daitō-ryū und nicht Aikidō, wie die späteren Gründer eigener Stilrichtungen. So entwickelte sich die Stilrichtung Yōshinkan von Beginn an parallel zu Aikikai, während die meisten anderen Stile aus dem ursprünglichen Aikikai entstanden sind.
Yōshinkan hatte als Zielgruppe von Beginn an Polizei, Militär und andere Sicherheitseinrichtungen. Ein effektives Lehrsystem war deswegen notwendig. Dieses Lehrsystem basiert auf der Grundstellung (kamae), Grundbewegungen (kihon dōsa) und Grundtechniken (kihon waza), die sehr stark an daitō-ryū angelehnt sind. Durch deren Verinnerlichung werden vor allem Körpermechanik, Timing, Distanz und Angriffswinkel geschult.
Grundsätzlich unterscheidet man waffenlose Techniken (sude waza) von Waffentechniken (buki waza). Es bestehen die beiden Möglichkeiten „bewaffnet gegen unbewaffnet“ und „Waffe(n) gegen Waffen(n)“. Die nächste Unterscheidung betrifft die Anzahl der Angreifer. Bei mehreren Angreifern spricht man entweder von futari-dori (zwei Angreifer), von sannin-dori (drei Angreifer) oder ganz allgemein von taninzu-dori (mehrere Angreifer). Die meisten Techniken können nicht nur im Stand (tachi waza), sondern auch im Kniesitz (suwari waza) ausgeführt werden. Befindet sich der Verteidiger im Kniesitz und der Angreifer in einer stehenden Position, spricht man von hanmi handachi waza. Ferner unterscheiden wir Wurftechniken (nage waza) und Kontroll- bzw. Festhaltetechniken (osae waza). Da Aikidō uns auf Angriffe von allen Seiten vorbereitet, üben wir auch Techniken, die mit einem Angriff von hinten beginnen (ushiro waza). Atemi waza bezeichnen Schlagtechniken gegen empfindliche Schwachstellen des Körpers. Theoretisch kann man jeden beliebigen Körperteil als Waffe einsetzen, häufig verwenden wir im Training Faust, Handrücken, Ellbogen oder Handkante. In den Grundtechniken kommt oft ein Schlag zwischen die Augen des Gegners zum Einsatz (metsubushi). Zahlreiche Techniken könnte man ferner als „Hand-Techniken“ (te waza) bezeichnen, bei denen der Angreifer ein oder beide Handgelenke fasst. Aus den wichtigsten Grundtechniken (kihon waza) leiten sich eine Vielzahl sogenannter angewandter Techniken (ōyō waza) ab. Dazu zählen fließende halbschnelle Techniken (chūkyū waza), „freie Techniken“ (jiyū waza), Selbstverteidigungstechniken (goshin jutsu) und Waffentechniken (buki waza).
Graduierung (dan-kyū-System)
Unser Graduierungssystem basiert auf derselben Klassifizierung, die im Jūdō verwendet wird. Heute existieren in unserer Stilrichtung die Rangstufen von 8. kyū (achter Schülergrad) bis 10. dan (zehnter Meistergrad). Die erste Prüfung, der sich jeder stellen muss, ist der achte Schülergrad. Inhalt der Prüfung sind vor allem die wichtigsten Basisübungen sowie unsere sechs Grundbewegungen ohne Partner. Außerdem müssen vier wichtige Grundtechniken gezeigt werden. Bei den Schülergraden zählen wir rückwärts, das bedeutet man beginnt mit dem achten Schülergrad (leichteste Prüfung) und endet mit dem ersten Schülergrad (schwierigste Prüfung), bevor man zu den Meistergraden gelangt. Der Prüfungsinhalt des achten und siebten Schülergrads ist gleich, ebenso der des sechsten und fünften. Das Programm muss dann jeweils besser beherrscht werden als zuvor. Ab dem sechsten Schülergrad muss man die sechs Grundbewegungen auch mit Partner zeigen.
Der vierte Schülergrad ist die erste größere Herausforderung, da er die Schwelle zum Braungurt darstellt. In dieser Prüfung kommen nicht nur neue Techniken hinzu, sondern der Prüfling muss auch alle Techniken der vorherigen Prüfungen beherrschen. Mit erfolgreicher Absolvierung des dritten Schülergrads darf die Gürtelfarbe braun getragen werden, achter bis einschließlich vierter Schülergrad tragen weiß. Das Programm von dritten bis ersten Schülergrad ist identisch. Bei diesen Prüfungen werden neben vorgegebenen Pflichttechniken bestimmte Techniken aus einer längeren Liste ausgewählt (shite waza).
Bei den Schwarzgurtprüfungen kommen neben der Beherrschung einer immer größer werdenden Anzahl von Grundtechniken auch die sogenannten freien Techniken (jiyū waza) hinzu. Auf einen vorgegebenen Angriff muss man mit verschiedenen fließenden Techniken reagieren. Früher wie heute ist zum Erreichen der höheren Meistergrade nicht nur die Ablegung einer Prüfung, sondern auch eine Empfehlung durch einen anerkannten Lehrer erforderlich. Die Bewertungskriterien der Prüfer sind nicht nur eine möglichst exakte Ausführung der Techniken, sondern auch Dynamik, Ausstrahlung und das Verhalten des Prüflings im Allgemeinen. Da Aikidō keinen Wettkampf kennt, basiert die Beurteilung der Leistung dennoch hauptsächlich auf der möglichst exakten Ausführung der Techniken. Der entscheidende Maßstab ist also die dynamische Beherrschung der Form.
Stefan Bill